zur Erinnerung

"Der vergessene Sieg":

Mehr als das Wunder an der Weichsel

Europa sollte sich an den Polnisch-Sowjetischen Krieg erinnern.

Eine Rezension von Jens Jessen

4. September 2019, 16:53 Uhr Editiert am 10. September 2019, 19:06 Uhr DIE ZEIT Nr. 37/2019, 5. September 2019

AUS DER ZEIT NR. 37/2019

Wenn es so etwas wie westliche Arroganz gibt, dann ist sie im Umgang mit Ostmitteleuropa zu greifen. Weder die Aufnahme Polens in die EU noch die Unterstützung der Ukraine gegen Russland haben Wissbegier freigesetzt, geschweige denn historischer Unkenntnis abgeholfen. Wer weiß, dass der Erste Weltkrieg dort ebenso wie in Weißrussland und im Baltikum 1918 nicht zu Ende war? Wer weiß vom polnischen Überfall auf die Ukraine, von dem Versuch, ein erneuertes Großpolen, unter Einschluss Litauens und Teilen Weißrusslands, im Schatten des russischen Bürgerkriegs zu errichten? Bestenfalls das Schlagwort vom "Wunder an der Weichsel" ist bekannt, als der sowjetische Gegenangriff 1920 in höchster Not vor Warschau gestoppt werden konnte und der Traum begraben war.

Unter dem Titel "Der vergessene Sieg" widmet sich jetzt ein kleines Büchlein dem hier sogenannten Polnisch-Sowjetischen Krieg 1919-1921. Auch wenn der Historiker Stephan Lehnstaedt jede überzogene Aktualisierung vermeidet, sind doch die Folgen für die Gegenwart unübersehbar, einschließlich der frühen Ost-West-Spaltung der Ukraine, ihrer Zerrissenheit unter dem Einfluss auswärtiger Mächte und einer nationalistischen Propaganda, die ganz wie heute auf "westliche" Identitätspolitik setzte. Der Autor referiert den Vordenker Dmytro Donzow, der 1915 mit wohlwollender deutscher Unterstützung die Eigenständigkeit der Ukraine kulturpsychologisch begründete: "denn sie seien Europäer - und keine von buddhistischen Einflüssen geprägte Orientalen wie ihre östlichen Nachbarn".

1917 wurde die erste ukrainische Volksrepublik mithilfe der Mittelmächte gegründet, 1918 formierte sich eine westukrainische Teilrepublik, 1919 marschierten im fortgesetzten Wechsel die Rote Armee, die Weißgardisten, ukrainische Garden und schließlich die polnische Armee in Kiew ein. Sie alle, die Russen, die Polen, die Ukrainer, nicht zuletzt die Juden, an denen sich der Hass aller entlud, besitzen bis heute traumatische Erinnerungen daran. Die Polen, die den Vormarsch des Bolschewismus damals aufgehalten haben, sehen sich dafür noch immer vom Westen nicht angemessen gewürdigt - eine Bitterkeit, die andauert wie die Furcht der Litauer vor Russland und Polen gleichermaßen.

Stephan Lehnstaedt: Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919-1921 und die Entstehung des modernen Osteuropa; 220 S., C. H. Beck, München 2019; 14,95 €

Quelle: zeit.de


Polnisch-Sowjetischer Krieg

Ein Wunder ließ Polen über die Rote Armee triumphieren Von Berthold Seewald
Leitender Redakteur Geschichte
Der Versuch der neu gegründeten Republik Polen, weite Teile Russlands zu vereinnahmen, drohte im August 1920 in einer Katastrophe zu enden. Doch an der Weichsel gelang eine überraschende Wende.

Veröffentlicht am 25.08.2018

Polnische Soldaten mit russischen Gefangenen
Quelle: picture-alliance / Mary Evans Pi

Ironie zu erkennen ist bekanntlich eine Eigenschaft, die nicht jedem gegeben ist. Daher brandete Beifall auf, als der Abgeordnete Stanislaw Stronski im polnischen Parlament, dem Sejm, die erfolgreiche polnische Offensive im August 1920 gegen die Rote Armee als "Wunder an der Weichsel" bezeichnete. Das sollte einen bissigen Unterton zu dem "ukrainischen Abenteuer" liefern, in das der Staatschef und Generalissimus Józef Pilsudski mit seinem Vormarsch nach Osten seit April Polen geführt hatte und das Stronski nun geißelte. Aber Pilsudskis Anhänger im Sejm verstanden keine Ironie. Und so wurde das "Wunder an der Weichsel" zum Ruhmeskapitel in der Wiederauferstehungsgeschichte Polens im 20. Jahrhundert.

Józef Pilsudski (M.; 1867-1935) mit seinem Stab
Quelle: Getty Images

Am 11. November 1918, an dem Tag, an dem das Deutsche Reich in Compiègne den Waffenstillstand mit der Entente unterzeichnete, hatte Pilsudski als "vorläufiges Staatsoberhaupt" die Macht in Polen übernommen. Ein Monat zuvor hatte der Regentschaftsrat in Warschau einen unabhängigen Staat proklamiert und damit die 123 Jahre währende Zeit der Unterdrückung beendet, in der Polen unter Russland, Österreich und Preußen beziehungsweise Deutschland aufgeteilt gewesen war.

Die drei Teilungen Polens 1772-1795 Um ihre Streitigkeiten nicht in Kriegen gegeneinander auszutragen, verfielen Russland, Österreich und Preußen Ende des 18. Jahrhunderts auf eine Idee: Sie teilten das Königreich Polen unter sich auf.
Quelle: WELT

Doch was war Polen, wo lagen seine Grenzen? Den einen schwebte eine Renaissance des alten Reichs der Piasten vor, zu dem Schlesien und andere Teile des Deutschen Reiches gehört hatten. Andere träumten von der Wiedererstehung des Imperiums der Jagiellonen und der Union mit Litauen, das sich weit ins Baltikum, nach Weißrussland und in die Ukraine bis zum Schwarzen Meer erstreckt hatte. Entsprechend breit gespannt waren die Forderungen, mit denen Polen auf der Friedenskonferenz von Versailles auftrat.

Pilsudski bei einer Parade im Januar 1920
Quelle: Getty Images

Ein Vorrücken der Grenze nach Westen, das auch dem französischen Konzept eines breiten "Cordon Sanitaire" zwischen Deutschland und Sowjetrussland entsprochen hätte, scheiterte am Einspruch Englands. In London wollte man Deutschland als mögliches Bollwerk gegen die Bolschewiki erhalten. Das war durchaus im Sinn Pilsudskis und seiner Anhänger. Sie träumten von einer Wiederherstellung Polens in den Grenzen des 17. Jahrhunderts.

Der Bürgerkrieg, der Russland erschütterte, bot die Chance dazu. Seit 1918 kämpfte Lenins Regime gegen die Armeen der Weißen und Expeditionskorps verschiedener Großmächte um seine Existenz. Pilsudski nutzte das Machtvakuum, das der Rückzug der deutschen und österreichischen Truppen aus dem Osten hinterlassen hatte, und begann, die Grenze schrittweise nach Osten vorzuschieben, wobei es wiederholt zu Kämpfen mit sowjetischen Truppen kam. Als klar wurde, dass die Rote Armee im Bürgerkrieg siegen würde, schlug er zu.

Am 25. April 1920 eröffneten polnische Armeen eine Großoffensive, wobei die Warnungen des Obersten Rats der Entente (England, Frankreich, Italien, Belgien, Japan) geflissentlich übersehen wurden.

Bereits am 7. Mai war mit Kiew die Metropole der Ukraine in polnischer Hand. Doch den Polen sollte es kaum besser ergehen als den Griechen, die zur gleichen Zeit mit wohlwollender Duldung durch die Siegermächte ihren Anteil am Osmanischen Reich zu gewinnen suchten. Die Logistik in den straßenlosen, zudem vom Krieg verwüsteten Weiten des Ostens brach zusammen. Zwar waren die polnischen Truppen hoch motiviert, und viele Soldaten hatten im Ersten Weltkrieg auf verschiedenen Seiten Kampferfahrung sammeln können. Aber sie mussten mit einem Sammelsurium an Waffen kämpfen und hatten oft nicht einmal Schuhe an den Füßen.

Curzon-Linie und polnische Landgewinne durch Krieg und Verträge 1919 bis 1922
Quelle: Wikipedia/r Webcyss/CC BY-SA 4.0

Auf der anderen Seite hatte die von Leo Trotzki organisierte Rote Armee unter großen Opfern den Bürgerkrieg bestanden und war zu einem hochgerüsteten Kampfinstrument geworden, das auch von einer ideologischen Sendung angetrieben wurde. "Im Westen entscheidet sich das Schicksal der Weltrevolution; über den Leichnam Polens führt der Weg zum allgemeinen Weltbrand", hatte der ehemalige zarische Oberleutnant und nun Oberbefehlshaber Michail Tuchatschewski der Westfront als Tagesbefehl am 2. Juli ausgegeben. Damit begann die sowjetische Gegenoffensive.

Die polnische Front brach zusammen. In ihrer Not bat die polnische Regierung den Ententerat um Hilfe. Der verwies auf die Demarkationslinie am Bug, die der damalige britische Außenminister George Curzon im Dezember 1919 als Ostgrenze Polens vorgeschlagen hatte, weil bis dort Polnisch die Mehrheitssprache war.

Eine polnische Batterie während der Gegenoffensive im August 1920
Quelle: picture-alliance / Mary Evans Pi
(Anm.: Entweder ist das Bild falsch oder o.g. Text, denn Schnee im August ist unwahrscheinlich.)

Doch die Bolschewiki hatten andere Pläne. Für sie war Polen ein letztes Bollwerk, das niedergewalzt werden musste, um die Weltrevolution endlich nach Westen zu exportieren. Ein "Polnisches Revolutionäres Komitee" unter der Führung des Tscheka-Gründers Felix Dserschinski, der verarmtem polnisch-litauischem Adel entstammte, stand in Bialystok bereit, um die Macht in Polen zu übernehmen. Und mehrere sowjetische Armeen schickten sich an, über die Weichsel zu setzen und die Hauptstadt Warschau in die Zange zu nehmen.

Da entwickelte Pilsudski einen tollkühnen Plan. Die zum Teil noch desorganisierten polnischen Divisionen sollten sich an und hinter der Weichsel eingraben oder sich so weit zurückziehen, dass ihre Gegner in leere Räume vordringen würden. Auf jeden Fall sollten sie sie ablenken und binden, damit eine "Reservearmee" in die Lücke stoßen konnte, die zwischen der sowjetischen West- und Südwest-Front klaffte. Diese Truppe bestand aus 20.000 erfahrenen und hoch motivierten Kämpfern, denen sich weitere Divisionen anschließen sollten.

Die französische Militärmission, die inzwischen die polnische Führung beriet, hielt den Plan für Wahnsinn, nicht zuletzt weil Pilsudski zuvor eher als Revolutionär und Politiker denn als Militärführer Erfahrung gesammelt hatte. Auch zahlreiche Kommandeure Pilsudskis äußerten Zweifel, wurden aber von dem Argument überzeugt, dass nur dieses riskante Flankenmanöver den Zusammenbruch der Front verhindern würde.

Felix Dserschinski, Gründer der Tscheka

Stalin und seine Genossen aus Zarizyn

Felix Dserschinski (1877-1926) gründete mit der Tscheka den ersten Geheimdienst der Sowjetunion.
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Der Sitz im Palast am Lubjanka-Platz in Moskau wurde zum Synonym für alle Geheimdienste, die auf die Tscheka folgen sollten. Der letzte war der KGB.
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Tschekisten bei der Arbeit: Liquidierung der "alten bolschewistischen Garde" während des Großen Terrors der Dreißigerjahre.
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Rund 10.000 Todesurteile sollen die Unterschrift Dserschinskis tragen. Ihn selbst ereilte ein nie ganz geklärter Tod.
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Das teilte er mit vielen seiner Nachfolger. Als Urheber gilt - trotz aller Freundschaftsgesten - Josef Stalin (r.).
Quelle: Wikipedia/public domain
Die Sowjetunion und ihre Satelliten errichteten Dserschinski zahlreiche Denkmäler, die nach der Wende verschwanden.
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Ganz im Sinne seines Namensgebers stand das Wachregiment "Feliks Dzierzynski" der DDR-Staatssicherheit.
Quelle: Bundesarchiv
Der spätere Diktator Josef Stalin (l.) mit seiner zweiten Ehefrau Nadeschda Allilujewa (2. v. l.), die er in Zarizyn an der Wolga kennengelernt hatte.
Quelle: Novosti
Mit einem Panzerzug erreichte Stalin 1918 die Bürgerkriegsfront bei Zarizyn. 1925 wurde die Stadt in Stalingrad umbenannt.
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Die "Zarizyn-Gruppe": Nadeschda Allilujewa (1901-1932), Sekretärin in Lenins Büro, heiratete 1919 Stalin und hatte mit ihm zwei Kinder.
Quelle: A0009_dpa
Stalin und Woroschilow. Der brachte das Kunststück fertig, sich von 1926-1957 als Vollmitglied im Politbüro der KPdSU zu halten.
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Kliment Woroschilow (1881-1969): Organisierte im Bürgerkrieg Massenerschießungen zarischer Offiziere. Später Volkskommissar für Verteidigung, Generalstabschef, Marschall.
Quelle: akg
Semjon Timoschenko (1895-1970): Im Zarenreich MG-Schütze, später Divisions- und Korpskommandeur, Marschall und Verteidigungminister.
Quelle: akg
Semjon Budjonny (1883-1973): Im Zarenreich Wachtmeister, führte ab 1918 die 1. Reiterarmee, Marschall, Militärrichter, Inspekteur der Reitertruppen.
Quelle: akg
Grigori Kulik (1890-1950): Artillerist, Inspekteur der Artillerie, stellvertretender Verteidigungsminister, Marschall und Armeekommandeur.
Quelle: akg
Georgi Schukow (1896-1974): Schütze, Kosaken-Kommandeur, Verteidiger von Moskau und Stalingrad und Eroberer von Berlin. Später Verteidigungsminister.
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Lew Mechlis (1889-1953): Artillerist, Politkommissar, Leiter von Stalins Büro, Chefideologe der Roten Armee, stellvertretender Volkskommissar.
Quelle: Wikipedia/Public Domain

Und einer unterstützte mit seinen Intrigen unwissentlich die polnischen Pläne: Josef Stalin. Als Politischer Kommissar der Südwestfront wollte er sich gegenüber Lenin profilieren. Auch hasste er die ehemaligen zarischen Offiziere wie Tuchatschewski, die sich der Revolution zur Verfügung gestellt hatten. Daher verzögerte er den Vormarsch der gefürchteten Reiterarmee seines Genossen Semjon Budjonny, eines zarischen Unteroffiziers, der im Bürgerkrieg Karriere gemacht und später zu einem der mächtigsten Paladine Stalins aufsteigen sollte.

Pilsudskis Plan ging auf. Seine Funkaufklärung hatte den sowjetischen Code geknackt. Auch gelang es, Tuchatschewskis Funkverkehr zu stören, so dass die roten Divisionen keine Befehle erhielten, in der polnischen Abwehr verbluteten oder sich fluchtartig zurückzogen. Lenin erkannte, dass ein polnischer Triumph für die Weltrevolution gefährlicher als ein siegreicher Durchbruch ihr förderlich werden würde und schloss in Riga Frieden mit Polen. Polens Grenze wurde 200 bis 300 Kilometer über die Curzon-Linie hinaus nach Osten geschoben.

Der Triumph verlieh Pilsudski einen Nimbus, der ihn bis zu seinem Tod 1935 zum starken Mann Polens machte. Stalin vergaß den Streit mit Tuchatschewski nicht und machte ihm 1937 einen Schauprozess, den der nicht überlebte. Nach dem Pakt, den der rote Diktator im August 1939 mit Hitler geschlossen hatte, ließ er im September 1939 die Rote Armee in Polen einmarschieren. Die Grenze zwischen beiden Diktatoren wurde in etwa die Curzon-Linie. Sie ist bis heute die Ostgrenze Polens.


Quelle: welt.de


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 17.07.2023 - 09:04